BREMEN Die Umsetzung der Corona-Maßnahmen fällt Menschen unterschiedlich leicht oder schwer. Ständig zu Hause von Angehörigen umgeben oder auch allein zu sein, bedeutet enorme Herausforderungen. Der Hirnforscher Prof. Gerhard Roth (77) und der Betriebswirt Sebastian Herbst (44) geben im Gespräch mit unserer Zeitung Empfehlungen für den Einzelnen und auch für Schule und Wirtschaft.
Mittlerweile scheinen die Menschen die Corona-Maßnahmen verinnerlicht zu haben. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Roth: Die Umstellungen sind gravierend. Sie greifen tief in unseren Alltag ein. Es gibt Leute, die das schnell erledigen und andere, denen das schwerfällt. Das steckt tief in der Persönlichkeit. Die Frage ist, wann sind Geduld und Impulskontrolle auf der Kippe. Wie lange hält man das durch? Der eine schafft das zwei Jahre, der andere nicht mal drei Tage. Das ist zum Teil genetisch festgelegt, aber zu mehr als der Hälfte durch die Erziehung und Umwelt bedingt. Eine Gefahr ist die Reibung der Personen, wenn man von morgens bis abends zu Hause zusammen ist. Wenn da Konflikte losgelassen werden, kann es bis zu Gewaltausbrüchen kommen.
Was sollte man tun, wenn Aggressionen kommen?
Roth: Man sollte sich ablenken und etwas tun, das Spaß macht, um sich vom Stress zu erholen. Vielleicht einfach mal aus dem Zimmer gehen oder ein schönes Buch angucken. Es kommen ja teilweise noch andere Belastungen hinzu, etwa die Ungewissheit oder die Angst vor Arbeitslosigkeit. Gefährlich wird es, wenn der Cortisol-Spiegel ansteigt. Dieses Stress-Hormon blockiert den Verstand und die Intelligenz. Irgendwann rastet man aus.
Gibt es da ein Gegenmittel aus biologischer Sicht?
Roth: Ein gutes Mittel dagegen ist, das Hormon Oxytocin hochzutreiben. Das wird durch harmonisches Zusammensein erreicht. Eine Möglichkeit ist, abends Karten zu spielen, es sich mit der Familie gemütlich zu machen, schöne Filme anzugucken und Musik zu hören. Das senkt den Cortisol-Spiegel und beruhigt. Außerdem werden Opioide, also hirneigene Drogen, freigesetzt.
Mitunter kann es auch zu Einsamkeit und Depressionen kommen…
Roth: Zu Depressionen kommt es, wenn man nichts erlebt und durch nichts abgelenkt wird. Dann können sich solche Anlagen voll entfalten. Leute, die allein sind, haben nicht die Möglichkeit, Luft rauszulassen, außer sie würden mit sich selber schimpfen. Wichtig ist, sich einen festen Tagesplan zuzulegen. Man sollte morgens um 6 Uhr aufstehen und Gymnastik zu treiben. Ausschlafen fördert Depressionen. Man sollte Dinge tun, die man schön findet.
Herbst: Dies ist zudem ein wichtiges Thema für Leute im Home-Office. Das führt ja auch zu einer Veränderung der Routinen im Arbeitsleben. Es gibt andere Aufgaben und neue, virtuelle Technologien. Die Leute sind nicht mehr in ihrer sozialen Gruppe. Den Unterschied merkt man. Wir machen jetzt unser Daily-Stand-Up-Meeting virtuell. Um 8.30 Uhr ist ein erstes Meeting mit Kamera. Man muss sich bürotauglich anziehen. Wichtig ist es vor allem, gewisse Routinen beizubehalten.
Merkt man einen Unterschied zwischen älteren und jüngeren Mitarbeitern bei der Anpassungsfähigkeit?
Herbst: Das hängt mit Persönlichkeitstypologien zusammen. Wir sehen, dass es auch Personen aus einer Generation unterschiedlich leichtfällt. Jüngere und ältere schaffen das gut, wenn die Persönlichkeitstypologie passt.
Roth: Es war ein Fehler der Wirtschaft, auf Persönlichkeitstypologien nicht achtzugeben.
Was können eigentlich Schulen und Betriebe aus der aktuellen Lage lernen?
Roth: Es gibt da große Chancen für selbstreguliertes Lernen und Schülerzentriertheit. Der Lehrer kann sich nicht einfach vorne hinstellen und auf die Schüler einreden. Auch werden sich die Computer-Skills weiterentwickeln.
Herbst: Es setzen jetzt mehr Menschen neue Technologien ein. Viele werden aber in ihre alten Gewohnheiten zurückfallen. Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen, die neue Annäherung an Technologie in die alte Welt zu übertragen. Die Interaktion in Teams, die Innovation, Kreativität und Performancebekommen wir aber virtuell alleine nicht hin.